Korpusforschung und Digitale Edition: ein Plädoyer für stärkere Intradisziplinarität

Abstract

Musikalische Korpusforschung gewinnt angesichts der wachsenden Verfügbarkeit von Datensätzen sowie der Anwendung avancierter algorithmischer und datenanalytischer Methoden zunehmend an Bedeutung. Das Panel widmet sich diesem aktuell florierenden Feld sowohl aus metatheoretischen als auch praktischen, ergebnisorientierten Perspektiven und gewährt Einblicke in gegenwärtige Trends und Herausforderungen.

In ihrem Beitrag „Zu einer epistemologischen Fundierung der Korpusforschung“ behandeln Martin Rohrmeier und Markus Neuwirth zunächst wissenschaftstheoretisch grundlegende Fragen, die das Verhältnis von hermeneutischem „close listening“ und quantitativ-statistisch orientiertem „distant listening“ ebenso diskutieren wie die Rolle des Werkbegriffs und den vielfach vorgebrachten Positivismusvorwurf. Im Anschluss daran thematisiert Neuwirth in seinem Beitrag „Modellbasierte Korpusanalyse“ die zentrale Bedeutung formaler Modellbildung in der Korpusforschung. Wichtige musikalische Domänen wie Polyphonie, Harmonik oder musikalische Form lassen sich technisch als Entitäten und deren Relationen konzeptualisieren. Im Vortrag sollen die vielfältigen Vorzüge formaler Modelle aufgezeigt werden, denen aufgrund ihrer generalisierenden Verfasstheit das Potenzial zukommt, Brückenschläge zwischen diversen theoretischen Beschreibungen zu ermöglichen. In der Musikforschung häufig nicht explizit dargelegte Modelle lassen sich gewinnbringend in Formalisierungen überführen und für computergestützte Korpusforschung nutzbar machen.

Fabian Moss referiert zu „Korpusforschung und Digitale Edition: ein Plädoyer für stärkere Intradisziplinarität“. Interdisziplinarität ist für digitale Musikforschung eine conditio sine qua non und bereits durch die Verbindung musikwissenschaftlicher Forschungsfragen mit informatischen Methoden notwendigerweise gefordert. Dass dies grundsätzlich erfolgreich sein kann, ist durch zahlreiche Forschungsprojekte bestens belegt. Weniger stark im Fokus steht dabei häufig die Frage, inwiefern der Einzug dieser Methoden bestehende intradisziplinäre Fissuren verfestigt. Dies soll anhand der Themenfelder „Digitale Edition“ und „Musikalische Korpusforschung“ exemplarisch ausgeführt und gleichzeitig Perspektiven für einen engeren Austausch aufgezeigt werden.

Der Beitrag von Christof Weiß befasst sich mit der „Erschließung von Audio-Korpora für die Musikforschung“. Audiodaten bieten aufgrund ihrer leichten Verfügbarkeit und der vergleichsweise unaufwändigen Datenaufbereitung große Chancen für die Korpusforschung, zumal sie die Einbeziehung improvisierter, elektronisch generierter oder anderweitig notierter Musik erlauben. Die Extraktion expliziter Informationen über z.B. Tonhöhen, Akkorde oder (lokale) Tonarten aus Audiodaten stellt hierbei eine große Herausforderung dar. Der Beitrag stellt Strategien vor, solche Daten trotz einer fehlerbehafteten oder unscharfen Primäranalyse für die Korpusforschung nutzbar zu machen und demonstriert dies anhand zweier Beispielkorpora (klassische Instrumentalmusik und Jazz-Soli).

In seinem Vortrag „Distant Listening – Neues aus der Korpusforschung“ berichtet Johannes Hentschel über ein vom SNF gefördertes Forschungsprojekt, das sich zum Ziel gesetzt hat, stilistisch heterogene Musiksprachen mit Blick auf Harmonik unter Nutzung korpusgestützter Methoden vergleichbar zu machen. Der Vortrag bietet Einblicke in die Genese eines der größten digitalen Datensätze vollumfänglicher harmonischer Analysen, wirft einige Schlaglichter auf stilometrische Auswertungsmethoden, und sucht Verknüpfungen zwischen statistischen Trends und musikgeschichtlichen Narrativen.

Maik Köster thematisiert die „Modellierung historischer Repräsentativität bei der Zusammenstellung symbolischer Musikkorpora“. Er verweist dabei auf die Problematik, dass sich die Korpusforschung in der Analyse historischer Kompositionspraxis weitestgehend auf wenige kanonisierte Komponisten beschränkt. Die Herausforderungen, ein Sample von Stücken, das die Vielfalt des in einem konkreten historischen Kontext rezipierten Repertoires abbildet, anhand historischer Daten zu begründen, sollen anhand des Streichquartetts im deutschsprachigen Raum des 19. Jahrhunderts diskutiert werden. Dieser Prozess stützt sich auf quantitative und qualitative Auswertungen von Konzertprogrammen, historischen Musikzeitschriften und Musikverlagsdaten.

Date
Oct 4, 2023 — Oct 7, 2023
Location
Saarbrücken, Germany
Fabian C. Moss
Fabian C. Moss
Assistant Professor for Digital Music Philology and Music Theory

Fabian C. Moss is an assistant professor for Digital Music Philology and Music Theory at Julius-Maximilians University Würzburg (JMU), Germany.